Anforderungsmanagement im agilen Umfeld

Viele Unternehmen setzen bei der Softwareentwicklung auf agile Vorgehensmethoden. Die Ausprägung dieser Vorgehensweisen ist recht unterschiedlich, abhängig davon, wie stark man das agile Mindset lebt und wie gross die Skalierung ist. Dieser Artikel beschäftigt sich mit der Frage, wie man in agilen Umgebungen erfolgreich Anforderungen erheben, dokumentieren, prüfen und verwalten kann.

Variante 1

Wir verzichten auf das bisherige Management von Anforderungen.

Zuerst soll die Frage gestellt werden, ob man nicht einfach auf die Tätigkeiten, die Mitarbeitende mit der Funktion «Business Analyst» (BA) oder «Requirements Engineer» (RE) ausführen, verzichten kann.

Häufig wird argumentiert, dass der Product Owner den Kontakt zum Kunden hat und entsprechend die Anforderungen genügend kennt.
Dieser Sichtweise stehen Argumente entgegen, die darauf hinweisen, dass ein systematisches und konzises Anforderungsmanagement dabei hilft, häufige Probleme in Projekten zu vermeiden oder mindestens abzuschwächen:

• Der schlechte Umgang mit Anforderungen ist ursächlich mitverantwortlich für Zeit- und Budgetüberschreitungen bei Projekten
• Studien belegen: 60% der Fehler in Systementwicklungsvorhaben entstehen bereits bei der Business Analyse.
• Je später im Projektverlauf Anforderungen erkannt werden, umso teurer ist deren Umsetzung.
• Relevante Stakeholder werden nicht berücksichtigt.
• Lösungsvorschlag und Anforderungen werden vermischt oder miteinander verwechselt.
• Missverständliche, unvollständige oder falsche Anforderungen führen zu Systemen, die wichtige Eigenschaften nicht besitzen oder Eigenschaften aufweisen, die nicht gefordert wurden.

Insgesamt zeigt die Liste auf, dass es viele Stolpersteine geben kann im Anforderungsmanagement. Oft sind diese Arbeiten für den Product Owner zusätzlich zu seinen eigentlichen Aufgaben nicht zu bewältigen, weshalb ein Business Analyst irgendwie in die agile Organisation integriert werden sollte.

Variante 2

Der BA/RE steht ausserhalb der agilen Organisation.

Ein Scrum-Team besteht aus drei spezifischen Ergebnisverantwortlichkeiten: Entwicklern, Product Ownern und dem Scrum Master. Es gibt keine Rolle «Business Analyst» gemäss Scrum Guide!

Deshalb wird in der Praxis das Anforderungsmanagement oft als Tätigkeit im Fachbereich angesiedelt, mit wenigen Berührungspunkten zur agilen Organisation. 
Diese Variante hat folgende Vor- und Nachteile:

  • Vorteile

    • Nähe zum Fachbereich: BA/RE kennt die Anforderungen genau
    • Anforderungen sind möglichst vollständig, bevor es an die Umsetzung geht
    • Die Haupttätigkeiten Ermitteln, Dokumentieren, Prüfen und Verwalten von Anforderungen können (wie bisher) ausgeübt werden 

  • Nachteile

    • Aufwändige Übergabe der Ergebnisse des Anforderungsmanagement an die agile Organisation, evtl. mehrmals 
    • BA/RE weiss nicht, was in der Folge mit den Anforderungen geschieht
    • Die Stakeholder haben den BA/RE als auch den Product Onwer als Ansprechperson, hier entsteht Abstimmungsbedarf
    • Agile Umsetzung muss auf die Anforderungserhebung warten

Besonders der letztgenannte Nachteil führt dazu, dass das Anforderungsmanagement unter Zeitdruck gerät, denn Agilität verspricht eine raschere Umsetzung. Das Management schaut deshalb genau hin. 

Variante 3

Der BA/RE ist in die agile Organisation integriert.

Für diese Variante sind in der Praxis verschiedene Ausprägungen denkbar:

a) Der BA bleibt hierarchisch im Fachbereich, wird aber einem oder mehreren agilen Teams zugeordnet und nimmt an den agilen Zeremonien teil.
b) Der BA wechselt aus dem Fachbereich (auch hierarchisch) in die agile Organisation.
c) Innerhalb der agilen Organisation existiert ein Pool von BA’s, die nach Bedarf den agilen Teams zugeordnet werden.

  • Vorteile

    • BA und PO können sich leichter die Aufgaben teilen
    • Engere Zusammenarbeit des BA mit den Entwicklern
    • Unklarheiten können rascher ausgeräumt werden
    • BA nimmt an den agilen Zeremonien teil und kann weiterhin Einfluss nehmen
    • Die Aufbereitung der Anforderungen erfolgt gemäss den Vorgaben des Umsetzungsteams
     

  • Nachteile

    • Die Nähe zum Fachbereich kann mehr oder weniger schwinden
    • BA muss sich rasch einarbeiten können, falls ein neues Fachgebiet bearbeitet werden muss
    • Besonders bei Ausprägung c) braucht es eine fachliche Einarbeitungsphase für den BA

Insgesamt sind die Herausforderungen an einen BA in dieser Variante nicht unerheblich. Je nach Tiefe des Wissens, das für das Verständnis der Anforderungen des Fachbereichs nötig ist, ist die erfolgreiche Umsetzung dieser Variante abhängig vom methodischen Wissen und der praktischen Erfahrung des BA.

Was sagt das IREB?

Der Wechsel von Wasserfall-artigen Vorgehensmethoden zur Agilität hat auch die Theorie erreicht. Deshalb bietet das IREB zwei Zertifikatsausbildungen an, die spezifisch diese Thematik aufgreifen und folgende Definition von «Requirements Engineering@Agile» postulieren.

IREB, das International Requirements Engineering Board, ist eine Non-Profit-Organisation und der Entwickler des CPRE (Certified Professional for Requirements Engineering) Zertifizierungskonzepts.
Die Board-Mitglieder sind unabhängige und international anerkannte Experten aus Industrie, Beratung, Forschung und Lehre.

IREB in Kurzform

ireb.org

RE@Agile ist ein kooperativer, iterativer und inkrementeller Ansatz mit vier Zielen:

1

Die relevanten (=priorisierten) Anforderungen in einem angemessenen Detaillierungsgrad zu kennen (zu jedem Zeitpunkt während der Systementwicklung)

2

Eine ausreichende Einigung der relevanten Stakeholder über die Anforderungen zu erzielen

3

Die Anforderungen gemäss den Rahmenbedingungen der Organisation zu erfassen (und zu dokumentieren)

4

Alle auf Anforderungen bezogenen Aktivitäten gemäss den Prinzipien des Agilen Manifests durchzuführen.

RE-Aufgaben werden nicht ausschliesslich einer Rolle zugewiesen:

• Der Product Owner ist verantwortlich für das Anforderungsmanagement
• RE als Rolle kann im Team oder ausserhalb sein
• Jeder im Scrum-Team kann den RE bei seiner Arbeit unterstützen, ausser der Scrum Master

Fazit

Gutes Anforderungsmanagement ist besonders bei komplexen Vorhaben auch im agilen Umfeld ein Muss. Damit dem agilen Manifest entsprochen werden kann, gilt es insbesondere, die richtige Flughöhe in den verschiedenen Phasen zu finden. Wieviel muss zu Beginn eines Projektes schon analysiert und definiert werden, kann man nicht pauschal beantworten.  Die Empfehlungen des IREB hierzu lauten:

• Definition der Vision des Systems und/oder der Ziele, die damit erreicht werden sollen.
• Identifizierung des derzeit bekannten Systemumfangs und der Systemgrenze (Scope)
• Identifizierung der relevanten Stakeholder und anderer wichtiger Anforderungsquellen

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Marcel Eichenberger, Ironforge Consulting AG

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